Stückwerke aus Braunschweig

Predigtfragment für den "Leere Wiege e.V. " Gottesdienst am 23.Oktober 2016.

 

Zimmer II. Trauer

 

Ich komme in ein neues Zimmer. Kalt ist es hier einsam, irgendwie.

 

So viele Gefühle, ein Ozean voller Gefühle. Wellen der Wut überrollen mich, ich will schreien. Und ersticke an Plänen und Wünschen, die sich nie mehr erfüllen werden. Tränen strömen, ein Meer voller Tränen. Leise Tränen, bittere Tränen.

 

Und dann wieder Ebbe. Gefühlsebbe, Tränen, die versiegen.

Wut, die in Leere umschlägt.

 

In diesem Zimmer begegnen mir Menschen. Manche nehme ich wahr. Manche halten mich - für einen Moment bin ich geborgen. In gemeinsamer Trauer oder einfach in der Umarmung. Einige geben Nähe und andere halten Abstand. Tun das wenige, das getan werden kann. Bleiben da, so gut sie können; soweit ich es zulasse.

 

Und jetzt? Was ist mit den Tränen?

Ich will ein Nebeneinander, ein Durcheinander.

Das Lachen dazwischen.

Die Momente, in denen es leicht ist.

Und nein, ich meine kein Vergessen - ich will ein echtes Nebeneinander.

Den Trost und den Trotz, die Träume und das Raunen,

die fiese Wirklichkeit, das Schöne und die Verheißung.

 

Nein, deine Gedanken sind nicht meine Gedanken.

Aber meine Tränen machst du, Gott zu deinen.

Nimmst sie auf. Jetzt schon.

 

Sammle meine Tränen in einem Krug;

zähle sie, jede einzelne, bittet David.

Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Zähle sie.

So wie die Körner im Sand von dir gezählt sind und die Sterne in der Nacht. Die Kinder, lebende und tote, eingeschrieben sind in deine Handflächen. So sammle meine Tränen, Gott.

Dass die Tränen aufgefangen werden. Und ich auch.

 

Und zwar jetzt. Nicht später.

David kann nicht warten bis in Ewigkeit.

Und wir auch nicht.

Ach Gott: Sammle unsere Tränen: Die Freudentränen über die Schwangerschaft. Die Tränen der Erleichterung, bei jedem Herzschlag auf dem Ultraschall. Die ungeweinten, sprachlosen Tränen, wenn plötzlich der Boden unter den Füßen schwankt.

Die Tränen der Wut, und der Machtlosigkeit.

Und auch die, noch geweint werden müssen oder nie geweint werden können, die traurigen und die stolzen – weil es für dieses Kind keine Einschulung, keine Familienmomente geben wird.

Hier mischen sie sich alle:

Ein Krug voller Tränen, gut aufgehoben bei dir.

 

Nichts geht verloren.

Nichts bleibt ungesehen.

Meine Tränen machst du, Gott zu deinen.

Jetzt schon.

 

Ein Daumen, der leicht über die Wange fährt und die letzten, schon fast versiegten Tränen aufnimmt. Wie eine kleine „jetzt ist schon etwas besser Geste“. Oder ein großes, kariertes Baumwolltaschentuch.

Extra für mich, mit FM eingestickt, versteht sich. Du ziehst es aus der Hosentasche, wie mein Opa: "Kumm mol her, min Deern", sagst du und ziehst mich auf den Schoß. Kumm mol her.

 

 

Mit großem Dank an Birgit, Alexander, Martina und Kristin.

Und inspiriert durch eine Predigt von Annette Kurschus.

 

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